Der Rausch (2021): Review

Der Rausch: Zwischen Midlife-Krise und Dauersuff!

DER RAUSCH (2021): Regisseur Thomas Vinterberg ist bekannt dafür auf dramatische Art die Tiefen der menschlichen Seele auszuloten. So erzählte er in „Die Jagd“ von einer ausbrechenden Hexenjagd auf einen vermeintlichen Kinderschänder oder in „Die Kommune“ von dem Schmerz einer endenden Ehe. In seinem neusten Film „Der Rausch“ widmet er sich dem desillusionierten und lethargisch wirkenden Geschichtslehrer Martin, gespielt von Mads Mikkelsen.
Dessen einstiger Enthusiasmus und Lebensfreude, dem tristen Alltag gewichen sind. Darunter leidet nicht nur dessen Ehe, sondern auch sein Unterricht. Am 40. Geburtstag von Freund Nikolaj soll ein Selbstexperiment die Wende bringen. Laut einer These eines norwegischen Psychiaters ist der dauerhafte Blutalkoholwert des Menschen um 0,5 Promille zu gering, was den Menschen in seinem Tun hemmt. Ein Selbstexperiment soll die These belegen, doch die vier Freunde Martin, Nikolaj, Peter und Tommy ahnen nicht, wie dies ihr Leben beeinflussen wird. Ob mich Vinterbergs „Der Rausch“ überzeugen konnte, erfahrt Ihr wie immer in den nachfolgenden Zeilen.
Der Dauersuff beginnt
Geschichtslehrer Martin steht an einem Scheideweg seines Lebens. Seine Lebensfreude und sein Enthusiasmus, wie auch seine einstige Leidenschaft sind längst passé. Martin lebt sein Leben nur nach dem, was von ihm erwartet wird. Dies hat enorme Auswirkungen auf seine Ehe, wie auch seine Arbeit. Sind die Eltern seiner Schüler doch der Meinung, dass Martin ihre Kinder nicht richtig für ihren Abschluss vorbereiten kann. Auch seine Frau distanziert sich immer mehr von ihm, wirkt er doch überwiegend nur noch abwesend.

Freund Nikolaj bringt dafür etwas Abwechslung in Martins Alltag und zusammen mit Peter und Tommy, möchte dieser seinen Geburtstag opulent feiern. Diese Feier ist auch der Moment, bei dem Martin knallhart die Erkenntnis über den riesigen Scherbenhaufen trifft, was er sein Leben nennt. Um die Stimmung nicht ganz kippen zu lassen, erzählt Nikolaj von der These eines norwegischen Psychiaters. Diesem nach wird der menschliche Geist gehemmt und kann sich nicht vollends zu entfalten. Was der Psychiater auf einen zu geringen Blutalkoholwert zurückführt.
Eine mutige These, die Martin jedoch nicht davon abhält diese am nächsten Tag in einem Selbstexperiment zu testen. Womit er kurz vor dem Unterricht, mit einem kräftigen Schluck aus der Flasche, seinen Blutpegel um 0,5 Promille anhebt. Überraschend dabei, Martin fühlt sich entspannt und seine Schüler hatten schon lange keinen solch fördernden Unterricht mehr. Nach Ende des Schultags muss er seinen Freund Nikolaj bitten, ihn heimzufahren, hat er doch gut einen sitzen. Dabei beichtet er ihm seinen Selbstversuch. Nikolaj ist begeistert und trommelt die anderen Freunde zusammen.
Ist dies doch die beste Gelegenheit, eine eigene Versuchsreihe zu starten, um die These zu belegen. Womit nun alle damit beginnen, sich lapidar gesagt, einen hinter die Binde zu gießen. So scheint es, dass sich ihr Selbstbewusstsein, ihre Leistung, ihre emotionale Verfassung, ihre Empathie tatsächlich verbessert. Doch diese Wesensveränderung fördert nicht nur Positives zu Tage, denn Alkohol kann und wird nie die Lösung für die Probleme in unserer Gesellschaft sein. Was Martin, Nikolaj, Peter und Tommy schmerzlich erfahren werden.
Einblicke in die Seele
Mit „Der Rausch“ widmet sich Thomas Vinterberg überwiegend dem Charakter Martin. Ein desillusionierter und leidenschaftsloser Geschichtslehrer, dessen Enthusiasmus und Lebensfreude schon lange auf der Strecke geblieben sind. Eine gemeinsame Geburtstagsfeier von Nikolaj mit Martin, Peter und Tommy, löst bei Martin unerwartet eine unangenehme Erkenntnis aus. Sein Leben gleicht einem Scherbenhaufen. Zur Rettung des Abends wechselt Nikolaj das Thema und berichtet von einer These.

Welche besagt, dass der Mensch zu wenig Promille im Blut hat und dies ihn in seinem Leben hemmt. So lässt Vinterberg seinen Protagonisten darüber sinnieren, ob dies die Lösung für ihn sein könnte. Auch wenn ich ungern auf solche Klischee-Sprüche zurückgreife, so bleibt auch in Vinterbergs Film, Alkohol keine Lösung! Mads Mikkelsen spielt dabei seinen Charakter Martin für den Zuschauer überaus nachvollziehbar. Und man macht sich tatsächlich so seine Gedanken, ob Alkohol Martins Leben wieder ordnen kann.
Sind es doch „nur“ 0,5 Promille. Ist doch Martins Dasein festgefahren und er selbst scheint fast schon lethargisch vor sich hinzuleben. Seine Schüler wie auch seine eigenen Kinder nehmen ihn nicht mehr ernst, das Kollegium wie die Eltern, zweifeln an seiner Kompetenz und die Nähe zu seiner Frau wich einer unsichtbaren Mauer. Womit sich der Zuschauer die Frage stellt, wird ein enthemmter Martin wieder zu seinem alten Leben zurückfinden oder wo endet dieser Selbstversuch letztlich.

Thomas Vinterberg zeigt die Veränderungen, die wir in den Jahren zwischen 40 und 50 durchmachen. Welche für manche nicht unerhebliche Probleme mit sich bringen. In diesem Alter haben die meisten ihr Leben im Griff. Ein Job, eine Familie und der ewig gleiche Alltagstrott. Der beste Zeitpunkt für eine Midlife-Crisis und während die einen dem Irrsinn verfallen, ihr altes Leben abzureißen und sich vermeintlich neu erfinden. Stecken andere in ihrer Tretmühle fest und finden keinen Weg mehr hinaus.
Das zunehmende Alter spielt dabei ebenfalls eine entsprechende Rolle. Auch ich habe die 50 bereits überschritten und obwohl mein Leben anders verlief, kann ich Martins Dilemma nachvollziehen. So ist sich Martin zu Beginn noch nicht gänzlich bewusst, dass er feststeckt. Bis ihn der Elternrat dazu auffordert seine Klasse abzugeben. Eine Geburtstagsfeier mit Freunden lässt Martin seine Situation erst richtig erkennen.
Und um die Stimmung bei dieser Feier nicht gänzlich zu kippen, kommt bereits erwähnte Promillewert-These auf den Tisch. Für Mads Mikkelsens Figur, der Versuch mit 0,5 Volt mehr im Blut, aus seinem selbst gebuddelten Loch hinauszuklettern. Obgleich der normale Menschenverstand vorgibt, dass dies eine selten dumme Idee sein muss. Zeigt Vinterberg wie sich Menschen selbst, an die unwahrscheinlichsten Ideen klammern können.
Wer nun glaubt, dass der Film nun in eine heitere Saufkomödie umschwenkt, den muss ich enttäuschen. Obgleich zu Beginn des Selbstversuchs, das eingefahrene Leben der vier Freunde tatsächlich Fortschritte zu machen scheint und es auch Szenen zum Lachen gibt. Beginnt sich die Spirale des Unverstands mehr und mehr zu drehen. Stellt sich den Freunden die Frage, was Martin, Nikolaj, Peter und Tommy noch alles erreichen könnten, wenn sie den Pegel weiter erhöhen. Hören doch Martins Schüler wieder auf ihn, Tommy kann mit seinen Schulfußballern wieder Siege einfahren und Peter kann einen Schüler sogar durch dessen Prüfungsangst geleiten.
Ebenso nähern sich Martin und seine Frau Anika wieder an, wobei hier noch ein ganz anderes Problem im Hintergrund steht. Offenbart ihm doch seine Frau ein verletzendes Geheimnis. Es mag zwar sein, das im ersten Moment der Alkohol die Probleme wegwischt. Doch diese bleiben und die daraus resultierenden werden vermutlich schlimmer wie auch schmerzlicher werden. Und so schwenkt auch Vinterberg recht hart um.
Womit er dramatische Erkenntnisse und einen tragischen Zwischenfall folgen lässt. Trotzdem hält Thomas Vinterberg einen Spalt offen, um doch noch eine Ode an das Leben zu zelebrieren. Bieten doch auch die negativsten Erfahrungen wieder neue Chancen. Hier könnte ich noch den Film „Nomadland“ empfehlen und wer einschneidende Veränderungen auf lustige Art sehen will, dem bleibt noch „Just a Gigolo„.
Eindruck Mediabook:
Für meine Rezension lag mir das Mediabook von „Der Rausch“ vor, welches mir die LEONINE STUDIOS freundlicherweise zur Verfügung stellten. Während sowohl die Blu-ray wie auch die DVD einige Extras bieten, darunter Interviews mit Thomas Vinterberg und Mads Mikkelsen, Artist Talks und Eindrücke vom Film Festival Cologne, sowie Trailer. Wartet das 20-seitige Mediabook noch mit einigen lesenswerten Informationen auf. Ebenfalls hat mir die Verarbeitung des MBs sehr gut gefallen. Gibt es doch manche Sonderausgaben, die schon beim bloßen Ansehen auseinander bröseln. Sammler von Mediabooks, wie auch Fans des Films können hier ruhigen Gewissens zugreifen.
Fazit:
Nüchtern betrachtet, erzählt Vinterberg mit Mads Mikkelsen als Martin, stellvertretend eine Geschichte vieler Menschen. Welche schon ähnliche Schicksale durchlaufen haben. Während der junge Mensch noch am Aufbau von allem ist. Steht der Ältere meist schon vor seinem Lebenswerk, welches „nur“ noch zu erhalten gilt. So schleicht sich gerne mal der triste Alltag in unser Leben, in dem es einzig darum geht, seinen täglichen Aufgaben und Verpflichtungen nachzukommen. So ergeht es auch Martin, der nur noch vor sich hinlebt, ohne zu verstehen, dass das Leben, seine Kinder, sein Beruf, seine Ehefrau an ihm vorläuft.
Ein Dämpfer rüttelt ihn zwar wach, hilft ihm aber nicht aus seiner Lage. Die These eines norwegischen Psychiaters, bezogen auf die dauerhafte Erhöhung des Blutalkoholwerts könnte seine Lösung sein. Wobei ihm im Verlauf der eigene Spiegel vorgehalten wird und ihm nicht gefallen wird, was er darin sieht. Alltag und Gewohnheit trifft auf jeden irgendwann zu und das interessante an Film: Jüngere Zuschauer sehen eine mögliche Zukunft ihrer selbst. Während wir Älteren hingegen, solch eine Situation vielleicht sogar schon einmal durchlebt haben.
Dennoch muss ich eine Sache am Drehbuch kritisieren, da mir dies in den letzten Jahren auch bei ähnlichen Filmen aufgefallen ist. Überwiegend werden Männer mit solchen Problemen dargestellt, was dann scheinbar als Rechtfertigung für die Frau gilt, Fremdgehen zu dürfen, ernsthaft? Also anstatt das Gespräch zu suchen oder einen Schlussstrich mit Neuanfang zu ziehen. Ist es für die vereinsamte Frau die bessere Wahl, den einst geliebten Gatten, zusätzlich zu seiner Misere obendrein noch emotional zu verletzen?
Wenn dies wiederum Männer machen, gilt dies meist als verwerflich. Können diese nicht ebenso an fehlender emotionaler Nähe leiden. Und wieso vergeben meist die eh schon gebeutelten Männer, in diesem Filmen ihren Frauen und suchen wieder die Nähe? Hier drängt sich mir immer den Gedanke auf, dass man irgendwie versucht, doch noch einen Hauch von „Happy-End-Feeling“ zu etablieren. Eine oft benutzte Wendung, die ich recht schablonenhaft finde.
Im Gegensatz zu anderen „Midlife-Crisis“ Filmen, wird hier die vermeintliche Lösung nicht mit Ausbruch aus der Familie gesucht. Wie auch dem obligatorischen teuren Sportwagen oder der Suche nach einer jüngeren Partnerin, sondern im Alkohol. Wobei es hier aber auch nicht darum geht sich auf lustige oder tragische Weise volllaufen zu lassen. Die Enthemmung soll nicht nur das Leben leichter machen, sondern auch neue Perspektiven aufzeigen. Ein fragwürdiger Ansatz, den Thomas Vinterberg auf eine interessante Art dem Zuschauer präsentiert.
Doch anstatt Probleme zu lösen, treten neue und bisher unbekannte in den Vordergrund. Wie das Fremdgehen von Martins Frau oder der nicht mehr gelungene Absprung von Tommy. Dabei lässt Vinterberg den Film wider Erwarten nicht in Tristesse und Trauer versinken. Dieser endet mit Erkenntnissen und daraus resultierend neuen Chancen, wie auch einem möglichen Neuanfang. Denn letztlich ist das Leben zu kurz, um nur vor sich hinzusiechen oder sich „volllaufen“ zu lassen.
Bild & Trailer © LEONINE STUDIOS – Alle Rechte vorbehalten!